Tag 4: Wie Romeo und Julia, aber akzeptiert verliebt

07.12.2018 00:50 Uhr

Der Rahmen des alten Gemäldes hat direkt nach den ersten Schritten in den Flur einen langen Kratzer an der frisch renovierten Wand hinterlassen. Das ist deswegen ärgerlich, weil wir zu diesem Zeitpunkt die Verantwortung für den Zustand der Räume bereits mit unserer Unterschrift besiegelt haben. Anderseits ist es aber zweitrangig, denn zum entspannten Lebensgefühl, dass die Menschen und die Stadt auf uns einrieseln lassen, seit wir vor etwa zwei Stunden zum ersten Mal ihren Boden betreten haben, passt die Sorge um Kleinigkeiten wie diesem Kratzer gar nicht. Hier zählen andere Dinge, hier zählen Freunde und Familie, gutes Essen, eine schöne Zeit haben. Hier haben Entspanntheit, gute Laune, Lachen und Fröhlichsein einen festen Bestandteil im täglichen Leben. Lieber einmal mehr einen Scherz gemacht, als einmal zu wenig. Es gehört ein ganzes Stück Arbeit dazu, sich diesem Fluss hinzugeben, wenn die Gegend aus der du kommst hauptsächlich für Tugenden wie Gradlinigkeit, Pünktlichkeit, Sachlichkeit – böse gesagt auch humorloser Distanziertheit bekannt ist.

Das soll um Gottes Willen nicht bedeuten, dass die Menschen hier nicht ebenso fleißig und zielstrebig sind, gewiss nicht. Wohl sind sie aber, während sie dies tun um Welten lockerer und gehen mit weniger Verbissenheit an Aufgaben heran.

Der Kratzer an der Wand ist damit einfach nur Symbol meiner Natur, im Grunde aber vollkommen egal. Durch den Stress der vorangegangenen Wochen, des Papierkrams und des Packens und Schleppens von Allerlei sowieso. Im Hier und Jetzt ist kein Platz für unbedeutende Nebensächlichkeiten.

Giulia gießt mir Wasser in einen Getränkebecher des Fußballvereins Leeds United und nimmt zuvor selbst einen großen Schluck. Der Becher dürfte überhaupt nicht hier sein, aber wie auch ein Handtuch aus dem Hôtel Ritz und den Hausschuhen aus dem Hotel Atlantic gibt es Dinge des täglichen Bedarfs, die zufällig in dein Leben treten, dich in schönen Momenten begleiten und die du am Ende einfach bei dir behältst, um dir den Zauber der jeweiligen Situation immer mal wieder ins Gedächtnis zu rufen, wenn du über sie stolperst.

Dem Becher sieht man an, dass er schon einiges hinter sich hat, die bedruckte Außenseite hat viele Kratzer und transparente Stellen, an denen Farbe fehlt. Ein kleiner Schweißtropfen huscht über Giulias linke Schläfe und machte mich stolz auf sie, wie während vieler anderen Geschichten und Erlebnisse, bei denen sie schon an meiner Seite war. Das Leuchten in ihren Augen ist heute noch genauso vorhanden, wie an diesem Picknicknachmittag vor ein paar Jahren, als wir eines nachmittags, mitten im Trubel der Stadt, zwischen tobenden Kindern auf einer Wiese in der Sonne lagen, die Zukunft besprachen und Pläne machten.

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Zitat des Tages

“Alles Großaufnahme, alles äußerste Steigerungsform, und wir dazwischen, die umkämpften Abgekämpften.” schrieb Roger Willemsen in “Wer wir waren

Musikstück des Tages

Soprano – Ferme les yeux et imagine toi (Live Marseille 2007)